BRIEF AN HANS PAETSCH


Der große Märchenerzähler Hans Paetsch in seinem Garten.

 

Lieber Hans Paetsch,

als ich Sie vor vielen Jahren anrief, um in Erfahrung zu bringen, wie Ihnen der Text «Märchenprinz» gefällt und ob Sie vielleicht Lust hätten, an meinem Projekt, das das Ihrige Projekt werden sollte, mitzuwirken; da sagten Sie über den Text was? – Sie erinnern sich? Genau: «Das bin ja ich!» Und das war für mich das schönste Kompliment überhaupt. Aber Hans Paetsch wäre eben nicht Hans Paetsch, jedenfalls nicht jener Hans Paetsch, den ich im Laufe unserer langjährigen Zusammenarbeit wesentlich besser kennen lernen sollte, hätte er seiner Belobigung nicht noch den Hauch einer zarten Kritik beigemischt, denn Sie ergänzten: «Allerdings muss ich hinzufügen, dass nicht ich der Märchenprinz bin, sondern ich immer nur über Märchenprinzen gesprochen habe». Nun, damals dachte ich noch, Ihre Bedenken mit einem «Herr Paetsch, ich sehe das mehr literarisch!» erfolgreich zerstreuen zu können, doch Ihrem Return «Das tue ich auch!» war nichts mehr entgegenzustellen.

Und genauso war es dann auch immer, wenn Sie vorm Mikrofon saßen, mal bei Ihnen zu Hause, mal im Studio Rabbit, wo Sie seit Jahrzehnten ein häufig und gern gesehener Gast waren. Ich habe es bisher nur leider allzu selten erleben dürfen, dass sich Bildung, Leidenschaft, Lebenserfahrung und eine ausgeprägte Portion Humor so konzentriert in einer Person vereinen wie in der Ihrigen. Nach einer offiziellen Lesestunde kamen wir irgendwie auf das Nibelungenlied zu sprechen, und so beugten Sie sich nur mal kurz vor und zimmerten davon mehrere Strophen in Mittelhochdeutsch vollkommen frei aus dem Gedächtnis in den Rekorder. Einfach unglaublich! Und darob waren Sie durch nichts und niemanden zu beirren, auch nicht durch mich und meine hin und wieder doch recht dilletantisch anmutenden Regieanweisungen, die Sie freundlicherweise sämtlichst ignorierten. Dafür bin ich Ihnen auch heute noch dankbar, denn andernfalls wäre dieses großartige Projekt längst nicht so großartig geworden.

Im Internet bringen Sie es locker auf über 1500 Einträge, und dort habe ich, vornehmlich aus Presseberichten, auch die Highlights Ihrer Vita in Erfahrung gebracht, die ich Ihren vielen Fans auf diesem Wege näherbringen möchte: Am 7. Dezember 1909 erblickten Sie in Montreux-Vieux das Licht der Welt und genossen durch Ihren Standortvorteil das Privileg, die elsässische Lebensart genießerisch zelebrieren zu dürfen.

Das Theater hatte Sie schon immer magisch angezogen, und so absolvierten Sie nach Ihrem Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte Ihren ersten Bühnenauftritt, als die eigentliche Besetzung für die Rolle kurzfristig ausgefallen war. Ihre Leidenschaft für die Schauspielkunst mußten Sie klischeegerecht gegenüber Ihrem Vater durchsetzen, der es viel spannender gefunden hätte, Sie einen bürgerlichen Beruf ausüben zu sehen – was Ihnen letztlich auch gelang; und noch vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges erlebten Sie jenen unter emotionalen Gesichtspunkten höchst fraglichen Höhepunkt, als nach der Premiere zum Stück «Madame Dubarry», in dem Sie ein ausgemachtes Ekelpaket, nämlich den Grafen Dubarry, offensichtlich so gut und realistisch spielten, dass sich ein ganz anderes und noch viel größeres Ekelpaket, weil viel bösartiger und zudem hochgradig geistesgestört, bemüßigt fühlte, Ihnen einen seiner Führerfinger in den Bauch zu bohren und ziegengleich dazu zu meckern: «Säährrr brrraaaav!» So etwas hält natürlich kein vernünftiger Mensch im Kopf aus, und deshalb baten Sie schon kurz nach diesem Happening um die Auflösung Ihres Vertrages. Die Kriegswirren führten Sie nach Prag, wo Sie mit vielen Schauspielkollegen einige Jahre überwinterten, bis Sie, quasi als Bestandteil des letzten Aufgebotes, doch noch an die Front mussten, dort viele Menschen sterben sahen und es selbst nur knapp schafften, «nicht erschossen zu werden».

Nach dem Krieg führten Sie die Beine Ihres Schicksals nach Hamburg, wo Sie bis zu Ihrer selbstgewählten Pensionierung dem Ensemble des Hamburger Thalia Theaters 28 Jahre angehörten. Ebenfalls wirkten Sie in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mit, und seit den 50er-Jahren gehören Sie zu den Markenzeichen des NDR. Ab 1965 entstanden auch jene Märchenplatten-Produktionen, in denen Sie vorwiegend als Erzähler auftraten und die Sie zur lebenden Legende, eben zu dem Märchenonkel unser aller Kindheit machten, dessen Stimme uns auch im reifen Erwachsenenalter immer noch Gänsehaut beschert.

Viele Zwanzig- bis Dreißigjährige suchen heute auf Flohmärkten nach Paetsch-Platten aus Kindertagen. Ich darf Sie zitieren: «In der Wohnung der Produzentin Heikedine Körting haben wir die ersten Märchen aufgenommen. Ich saß damals im Wohnzimmer, sie auf der verglasten Terrasse draußen. Von da gab sie mir immer Zeichen.» Und bescheiden fügen Sie hinzu: «Ich glaube, wir haben damals wohl doch ganz gute Arbeit geleistet.» Und wer möchte dem noch etwas hinzufügen wollen?

Ihre erste Frau kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ihre zweite Frau, die Schauspielerin Trude Wagenknecht, starb an der Alzheimer-Krankheit. Ihre dritte Frau Anneliese, eine Nachbarin und treue Freundin, hatte sie bis zuletzt gepflegt. «Ohne die Liebe zur Poesie», so sagten Sie einmal, «hätte ich dieses Leben nicht ertragen.»

Und nun kann ich es immer noch nicht fassen, dass Sie am 3. Februar diesen Jahres im Alter von 92 Jahren den Dienst als Erdenbürger quittierten, um hoffentlich in jenes himmlische Reich einzuziehen, von dem ich über Sie gerne in Erfahrung bringen möchte, ob es denn tatsächlich existiert und, falls ja, was Sie dort so treiben. Lesen Sie den Engelchen Geschichten vor, die mit «Es war einmal ein Märchenprinz...» anfangen und mit «Und wenn er nicht gestorben ist, so lebet er noch heute...» aufhören? Oder treffen Sie sich regelmäßig mit Frau Holle zum Brunch? Schicken Sie mir doch bitte eine Mail und lassen es mich wissen. Ja? Und schließlich wollen Sie von mir auch bestimmt noch Ihr Belegexemplar bekommen, nicht?

Lieber Hans Paetsch, es war eine schöne Zeit mit Ihnen, die ich nicht vergessen werde. Leben Sie wohl.

Ihr Andreas Baier


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